Damit wir auf allen Ebenen unser Dasein ganzheitlich spüren lernen, braucht es eine feine Wahrnehmungsfähigkeit. Auf dem Weg zu mehr Sensibilität und Intensität unseres Erlebens, ist es eine große Herausforderung, uns von unseren Ängsten zu lösen und Bindung zu uns selbst und unserem Umfeld (wieder) herzustellen und zu verbessern.
Um zu verstehen, wer wir sind, kann das Wagnis, unsere Erlebenswelt mit den Möglichkeiten der Kunsttherapie zu beleuchten, ein Weg von tiefer Selbsterkenntnis sein. Die Kunsttherapie kann einen Anker darstellen, eigene Stärken zu erkennen, Regression zu zulassen und Selbstwahrnehmung zu verfeinern.
Ich umfasse in meiner Arbeit die Kunsttherapie mit dem Begriff der Prozessorientierung. Die Förderung des spontanen Ausdrucks steht dabei im Mittelpunkt.
Um einen solchen kreativen Weg betreten zu können, ist es von grundlegender Bedeutung sich von einer kontrollbezogenen Erwartungshaltung loszusagen und auf einen experimentellen Zugang einzulassen. Dabei zählt nur der Prozess, der Weg selbst und nicht das Endergebnis.
Dieser Weg kann als eine Übung verstanden werden, welche Stärke und Klarheit in sich trägt. Der spontane kreative Ausdruck birgt ein großes Potential in sich. Er kann an vorsprachliche und unbewusste Erfahrungen und die damit verbundenen Körperempfindungen und Gefühle anknüpfen.
Ein direkter Ausdruck ohne Wertung, wird sichtbar. Die Kunsttherapie kann unterstützend wirken, auf dem Weg, Selbstzweifel und Verunsicherungen loslassen zu können und der eigenen Intuition vertrauen zu lernen.
Es ist die Möglichkeit, unserer inneren Erlebenswelt, Form, Farbe und Raum zu geben.
„Jeder kreative Prozess ist einzigartig, hat eigene Rhythmen und verfolgt wie alle Lebensprozesse eigene Zyklen.“
Der Mensch kann sich hier in seiner komplexen Gesamtheit erleben. Er kann sich seiner emotionalen Bewegungen bewusst werden. Ein sicherer Rahmen ermöglicht ein Hinspüren zu eigenen Rhythmen, zur eigenen Dynamik des Körpers bis hin zu einer achtsamen Erlebensweise von emotional aufgeladenen und schwer auszuhaltenden Lebensmomenten. Die Art und Weise des kreativen Ausdrucks kann als Sinnbild zur Beziehung zu sich selbst gesehen werden.
D.W. Winnicott beschreibt die kreative Fähigkeit des Menschen als eine Voraussetzung für die Suche nach dem eigenen Selbst:
„Mehr als alles andere, ist es die kreative Wahrnehung [kreative Haltung], die dem Einzelnen das Gefühl gibt, dass das Leben lebenswert ist.“ (Winnicott, 2006)
Allerdings beschreibt die Bindungs- und Säuglingsforschung, wie „kompetent“ ein ungeborenes Kind ist und welche essentielle Bedeutung diese ersten Erfahrungen für ein ganzes Leben und die gesamte psychische Entwicklung hat.
In den letzten 30 Jahren haben vielfältige Forschungen im Bereich der prä- und perinatalen Psychologie stattgefunden. Sie zeigen, welche Fähigkeiten der Mensch bereits im Mutterleib besitzt. Es sind Fähigkeiten, bezüglich der Kommunikations- und Wahrnehmungsentwicklung und der Bewusstseinsentwicklung, die dem ungeborenen Baby bis dahin nicht zugesprochen wurden.
Diese Erkenntnisse führen zu einem aufgeschlossenen und ganzheitlichen Umgang mit Babys und der frühen Lebenszeit.
Nicht zuletzt veranlassen diese, auch einen erweiterten Blick auf das frühe Erleben aus der Perspektive eines Erwachsenen. Denn das Nachspüren vorgeburtlicher Erfahrungen kann ordnende und sinnstiftende Wirkung auf vielen Ebenen haben. Die Erfahrungen unserer vorgeburtlichen und geburtlichen Zeit tauchen in symbolischer Form in unseren Träumen, Phantasien und in unseren unterbewusst gesteuerten Handlungen auf. In der prä- und perinatalen Forschung wird die Auffassung vertreten, dass dies nicht nur Phantasien, sondern Erinnerungen sein können.
Das vorgeburtliche Empfindungsvermögen entwickelt sich lange vor dem Spracherwerb und dem autobiografischen Gedächtnis. Das vorgeburtliche „Fühlen, Spüren und Empfinden“ färbt die ganze Persönlichkeitsentwicklung wesentlich und entscheidend ein. Das Erleben in dieser Zeit prägt die Orientierung zur Umwelt und dem Selbstempfinden tief und existentiell.
Vorgeburtliche und geburtliche Umgebungseinflüsse determinieren allerdings nicht, sondern bilden einen Entwicklungsweg, der eingegangen wird. Wie dieser Weg weiter verläuft, hängt stets von weiteren Lebenseinflüssen ab.
„Alle Ebenen menschlichen Fühlens und Denkens können als Einheit verstanden werden und nicht als Spaltung oder getrennt wahrgenommen werden. Denn unser Denken kann nicht weitergehen, als unsere emotionale Verarbeitung fortgeschritten ist.“
Über das Nachspüren und Einfühlen in eigene Körperwahrnehmungen, kann ein Weg zu sich selbst und den eigenen Lebensthemen gefunden werden. Eigene Ressourcen können entdeckt und Blockaden erkannt werden. Bewusste und unbewusste Erinnerungen werden auf diese Weise wach. So kann eine Annäherung an die Erlebnisse von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt stattfinden.
Gefühle haben eine körperlich empfundene Bedeutung. Durch die Arbeit mit und über den Körper kann diese Bedeutung aufgedeckt werden und sinnstiftende Integration erfahren werden. Wenn unsere frühen Gefühle in die bewusste Wahrnehmung aufsteigen dürfen, ruht hier die Chance, Akzeptanz und Einsicht sich selbst und dem Leben gegenüber zu finden.
Diese Form des Umgangs mit dem eigenen Körper, führt zurück zu dem was für einen Menschen wesentlich ist. Sie ermöglicht Vertrauen in den eigenen Körper. Der Teilnehmer lernt sich selbst zu zuhören, sich selbst nahe zu sein.
Es ist ein Erlebnis von größter Lebensbedrohung für einen Menschen auf allen Ebenen seines Daseins. Dabei fehlen ihm individuelle Möglichkeiten zur Verarbeitung eines solchen Ereignisses. Ein solches Erlebnis wird mit Gefühlen von höchster Schutzlosigkeit, Hilflosigkeit und Ohnmacht begleitet. Wir erstarren vor Angst und fühlen uns überwältigt und überflutet.
Eine traumatische Erfahrung erschüttert das Selbstbild und Weltbild grundlegend. Gefühle von Schuld, Scham und Wertlosigkeit bestimmen das Selbstverständnis. Intrusionen und Flash-backs können unsere Handlungsmöglichkeiten und alltäglichen Abläufe bestimmen. (Unwillkürliche und belastende Erinnerungen an das Trauma, somatosensorische Rückblendeerinnerungen. Ein Gefühl von anhaltender Bedrohung.)
Die Folgen zeigen sich in einer starken Beeinträchtigung der Persönlichkeitsbildung, der Beziehungsfähigkeit und der emotionalen Stabilität.
Nach Peter A. Levine ist ein Trauma ein überwältigendes Stresserlebnis: Es geschieht zu viel, zu schnell, zu heftig. Es ist keine Integration mehr möglich. Selbstschutz- und Abwehrmaßnahmen sind außer Funktion, Angriff oder Flucht sind nicht mehr möglich. Übertragen auf die Funktion des autonomen Nervensystems, Stress zu regulieren, bedeutet ein Trauma eine Überaktivierung des Sympathikus, welche zur Überwältigung des Systems führt. Ein parasympathischer Schock ist dann eine völlige Erschöpfung des Systems, aufgrund einer zu starken Daueraktivierung, mit Dissoziation als Folge.
Je heftiger und früher eine solche Erfahrung gemacht wird, umso kleiner kann der Auslöser sein, welcher das Erlebnismuster des Traumas wieder in Erscheinung treten lässt.
Franz Renggli beschreibt ein Trauma als Nah – Tod – Erleben, das an ein sehr frühes Erleben von Ablehnung gekoppelt ist. Besonders frühe Verletzungen, die in der Zeit der Schwangerschaft oder der frühen Kindheit gemacht wurden, lassen ein Gefühl von Ungewollt-sein und Abgelehnt-sein und die damit verbundene Wut zurück. Traumatische Erfahrungen, die in dieser frühen Zeit erlebt wurden, können demnach nur das Schocksystem ansprechen, weil ein Mensch in dieser Lebenszeit nur wenig Handlungsspielraum besitzt, sich gegen Feindseligkeiten und vernichtende Bedrohungen zu wehren oder zu schützen.
Ein Mensch kann bei früher Traumatisierung nur körperlich verspannen und in Schock fallen. Diese Erfahrungen hinterlassen tiefe Wunden höchster Verletzlichkeit.
Trauma und Schock programmieren Gehirnstrukturen am stärksten im Moment ihres Geschehens. Die Erfahrung von Trauma oder Vernachlässigung während des vorgeburtlichen Lebens und in der frühen Kindheit verursacht negative Veränderungen innerhalb der Organisationsstrukturen und Funktionsweisen wichtiger neuronaler Systeme im Gehirn. (nach Verdult)
Beispiele für Stress, Trauma und Schock während der Schwangerschaft bis zur frühen Kindheit:
- ein unerwünschtes Kind zu sein
- Stress der Eltern während der Schwangerschaft
- Abtreibungswünsche oder -versuche
- ein verlorener Zwilling
- Frühgeburt oder künstliche Geburtseinleitung
- Narkose und Medikamente
- Vergiftungen (Alkohol, Nikotin, Drogen)
- chirurgische Interventionen (wie Kaiserschnitt, Zange, Saugglocke)
- Nabelschnurkomplikationen
- fehlendes Bonding
- Missbrauch durch Bezugspersonen
- frühe Trennung zu den Eltern (z.B. aufgrund von Krankenhausaufenthalten)
Emotionale Verarbeitung ist untrennbar mit dem Körper verbunden. Emotionen bestehen aus einer inneren Erfahrung und einem äußeren Ausdruck. Zur Bewusstmachung der aufsteigenden Gefühle, wird während der Prä- und Perinatalen Traumaarbeit stets Bezug hergestellt. Erinnertes und Körperempfindungen werden fortwährend verbalisiert. So wird Regressionsarbeit möglich, reflektiert und bewusst.
Ist der Organismus beruhigt und sind Ressourcen entdeckt und gestärkt, kann ein achtsames Herantasten an traumatische und schwierige Erfahrungen möglich werden.
„Ein menschlicher Organismus entsteht nicht dadurch, dass Zellen zunächst einen Körper bilden, zu dem später irgendwann einmal die Seele hinzukommt. In dem Maß, wie sich der Körper im Verlauf der pränatalen Entwicklung immer weiter ausdifferenziert, entfaltet sich gleichzeitig und untrennbar damit auch die Psyche des ungeborenen Kindes.“ (Hüther, Krens, 2008, S.39)
Das Bild und die Haltung zur Entwicklung unserer Babys scheint aus vielen Gründen verzerrt. Aufgrund von biologisch und medizinisch vereinfachten Ansichten der Entwicklung im vorgeburtlichen Lebensraum und das idealisierte Bild der „guten Mutter“ („guten Eltern“), die paradiesische Zustände für ihr ungeborenes Baby erschaffen sollen, scheint die Wirklichkeit nur schwer zu erfassen. Denn echte Bedürfnisse der werdenden Mutter und des ungeborenen Kindes bleiben unreflektiert und unberührt.
„Unsere Eltern haben eine Bildergalerie in uns hinterlassen, was Beziehung für uns bedeutet. Die Summe unserer Gefühle, sind die Erfahrungen und Vorstellungen, die wir in der Beziehung zu unseren Eltern gesammelt haben.“ (nach Franz Renggli)
Eine Schwangerschaft wird manchmal als schwere Belastung oder Lebenskrise empfunden. Gefühle von Ablehnung, Hilflosigkeit, Ungewolltsein, etc. können (wieder) wach werden. Eine solche Lebenskrise kann als Herausforderung im Wandlungsprozess eines Lebens verstanden werden, welche zu kreativen Lösungen führen können.
Die Schwangerschaft ist eine besondere Zeit im Leben, die allen Beteiligten die Chance bietet, sich weiterzuentwickeln und sich mit eigenen schwierigen Lebensphasen auszusöhnen.
Heute wird die Überzeugung stärker, dass Eltern nicht nur mit ihren Genen zur Entwicklung ihrer ungeborenen Kinder beitragen, sondern diesen Prozess auch tief über ihr Verhalten prägen.
Die Mutter und ihr Baby stehen in einer tiefen biologischen und psychischen Beziehung zueinander. Die Harmonie und auch die Störungen dieser Beziehung haben prägende und weitreichende Wirkungen auf die Entwicklung des Kindes (vor und nach der Geburt).
Wenn wir uns trauen hinzuschauen, können wir verstehen welche Schätze in uns selbst verborgen liegen. Ein grundlegendes Anliegen in der prä- und perinatalen Traumaarbeit, ist eine gelungene Integration von mütterlicher und väterlicher Fürsorge.
„Das eigene unbekannte Land erforschen, Grenzen überschreiten, geheime Türen öffnen, die Färbungen des eigenen Lebens, seine Schönheit und Einzigartigkeit spüren, wie es immerfort in uns strömt.“ – nach Michele Cassou